Zimmermanns Revier 01 – Der tote Sprayer

»Hemer.« las Kommissar Zimmermann laut vor, als er mit seinem Wagen am Ortsschild vorbei fuhr.
»Hemer. Das wird also mein neuer Einsatzort.«
Er wusste noch nicht, ob Freude oder Leid überwog.
»Wenigstens muss ich mir hier in der Provinz nicht ständig Gedanken über Mord und Totschlag machen.«
Schon schlichen sich die ersten Bilder in seinen Kopf, wie er nach gestohlenen Kühen suchte und in einfachen Diebstahlsdelikten ermittelte.
»Das wird bestimmt eine gemütliche Vorbereitung auf den Ruhestand.«, dachte sich Zimmermann, der von der Mordkommission in Dortmund genug und auf eigenen Wunsch aufs Land versetzt worden war.
»Jetzt muss ich nur noch das Hotel finden und mich dann auf die Suche nach einer Wohnung machen.«

Halb neun in Deilinghofen. Pfarrer Rüdiger Schneider war zu spät dran. Er hatte völlig vergessen, dass er an diesem Sonntag den Gottesdienst übernehmen sollte. Sein Kollege lag krank im Bett und hatte um Ersatz gebeten. Und nun saß Schneider in seinem Wagen, ging noch einmal die Predigt durch, die er während des Frühstücks geschrieben hatte und trat kräftig aufs Gas.
»Dass ich aber auch immer so zerstreut sein muss. Ich muss endlich was dagegen unternehmen.«, ermahnte er sich selbst.
Ein paar Minuten später hatte er die mittelalterliche Kirche an der Hönnetalstraße erreicht. Mit dem Talar unter dem Arm hetzte er auf den Eingang des Gotteshauses zu und drückte die Klinke herunter.
»Mist. Abgeschlossen.«
Er dachte kurz nach.
»Ach ja. Die Sakristei hat noch einen separaten Eingang.«, erinnerte er sich an das Telefonat vom Freitag.
Sofort hetzte er um die Kirche herum, stolperte und stürzte der Länge nach auf den frisch gemähten Rasen. Verärgert rappelte er sich wieder hoch. Er da fiel ihm auf, dass er über einen jungen Mann gefallen war.
»Geht es ihnen gut?«, erkundigte sich Schneider erschrocken und drehte den Mann um.
»Oh Gott.«
Zu mehr als einer brüchigen Stimme war er nicht mehr in der Lage. Die Haut des jungen Mannes war eiskalt. Seine weit geöffneten Augen völlig ausdruckslos und leer.
»Oh mein Gott. Er ist tot. Er ist tot.«
Der Pfarrer stand auf, rannte zur Straße zurück und rief um Hilfe. Es dauerte ein paar Momente, bis ihm einfiel, dass er ein Handy in der Hosentasche stecken hatte.
»1-1-0.«

Zimmermann war sauer. Er hatte gerade das Hotel erreicht, als er das erste Mal von seiner neuen Dienststelle angerufen wurde.
»Ich bin noch gar nicht im Dienst.«, war seine knurrige Antwort gewesen.
»Aber sie sind der Mann mit der meisten Erfahrung.«, war die knappe Erklärung.
»Verdammt. Na schön. Ich bin in ein paar Minuten da, sofern mein Navigationsgerät in dieser Provinz funktioniert.«

Die Spurensicherung war bereits vor Ort. Die Sanitäter der Feuerwehr warteten darauf, die Leiche einladen zu können. Ein paar Polizisten sicherten das Gelände ab und schickten die verwirrten Kirchenbesucher zurück nach Hause.
»Was haben sie in meiner Abwesenheit feststellen können?«, fragte der Kommissar, ohne sich vorzustellen, während der einem Wachtmeister seine Dienstmarke vor die Nase hielt.
»Der Tote heißt Sebastian Müller, siebzehn Jahre. Lebte hier im Dorf. Es handelte sich wohl um deinen dummen Streich. Er ist von der Leiter gefallen, als er auf den alten Mauern ein Graffiti sprühen wollte.«
»Dummer Jungenstreich mit fatalen Folgen.«, grummelte Zimmermann.
»Aber warum haben sie mich dann hierher bestellt? Es scheint doch alles seine Ordnung zu haben. Ein Unfall mit Todesfolge.«
Der Wachtmeister wirkte etwas eingeschüchtert und wurde rot im Gesicht.
»Wir wollten nur sicher gehen.«
Zimmermann wandte sich ab, grummelte vor sich hin und machte sich bereits wieder auf den Weg zu seinem Auto, als ihm zwei Mädchen entgegen kamen.
»Es war kein Unfall.«, sprachen sie ihn an.
»Was?«, fragte der Kommissar verwirrt.
»Es war kein Unfall. Wir kennen Basti. Er würde niemals ein Graffiti sprühen. Er hat nämlich keine Ahnung davon. Er bekommt regelmäßig Fünfer im Kunstunterricht. Er ist … war … völlig unbegabt.«
Zimmermann fuhr sich mit der Hand durch sein lichtes Haar.
»Habt ihr denn ein Alibi für ihn?«
Die Mädchen verneinten.
»Tut mir Leid, Mädels. Aber ohne Beweise kann ich nichts machen. Alles deutet auf einen Unfall hin. Daran kann ich nichts ändern.
Der Kommissar setzte sich in sein Auto und fuhr zurück zum Hotel. Das ungute Gefühl in seiner Magengrube, wollte sich aber nicht mehr verflüchtigen. Das Gespräch mit den beiden Mädchen hatte ihn zum Nachdenken gebracht.

Der Kommissar saß in seinem Hotelzimmer und ging die Ereignisse des Tages noch einmal durch. Der Fall gehörte zu den Akten, wenn da nicht die Aussagen der bei Mädchen gewesen wären.
»Die Sache stinkt. Das passt hinten und vorne nicht.«, ärgerte sich Zimmermann, der sich bereits auf einen ruhigen und entspannten Abend vor dem Fernseher gefreut hatte. Ein verpasster Tatort im Ersten kam einer mittelschweren Katastrophe gleich. Vor allem, wenn es der letzte vor der Sommerpause war.
»Ach, was soll’s. Ich werd mich eh nicht auf den Film konzentrieren können.«
Also packte der Kommissar seine Sachen, setzte sich ins Auto und fuhr wieder an den Unfall-, beziehungsweise Tatort zurück, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man die Sache betrachten wollte.
Aber vorher brauch ich einen Kaffee.«, womit schon das erste Problem gefunden war. Das örtliche Café hatte bereits geschlossen.
»Wie konnte ich mich nur freiwillig hierher versetzen lassen? Es gibt nicht mal einen Coffee-To-Go.«
Zimmermann grummelte noch einmal laut vor sich hin, bevor er seinen Wagen in einer Seitenstraße nahe der Kirche parkte.
Er ging die Hönnetalstraße entlang, zündete sich eine Zigarette an und sah sich in Ruhe um.
»Hier steppt der Bär, das muss man dem Dorf lassen.«, kommentierte er die leeren Gehwege ironisch.
Doch dann fielen ihm zwei Fahrräder ins Auge, die vor dem Kriegsehrenmal abgestellt worden waren.
»Wen haben wir denn da?«, wurde der Kommissar neugierig.
Er schlenderte noch zweimal an der Kirchmauer entlang und sah sich dabei unauffällig um, bevor er wieder in der Seitenstraße verschwand und von dort aus den alten Kirchfriedhof betrat.
Geduckt schlich er sich um die Kirche herum, suchte regelmäßig Schutz hinter den verwitterten Grabsteinen, die von alten Zeiten zeugten, bis er sich schließlich hinter einen großen Busch hockte.
»Habt ihr schon etwas Verdächtiges gesehen?«, fragte er ganz beiläufig die zwei Mädchen, die vor ihm unter dem dichten Blätterdach saßen und nun erschrocken herumfuhren.
Zimmermann grinste die beiden an.
»Ich konnte mich auch nicht damit abfinden, dass es ein Unfall gewesen sein soll. Wenn er ein Kunstbanause gewesen ist, dann waren Leiter und Spraydose nur eine Ablenkung. Er wird irgendwen bei irgendeiner Sache gestört haben. Ich bin mir sicher, dass derjenige noch einmal an den Tatort zurückkommen wird.«
Die Mädchen nickten zustimmend. Diese Vermutung hatten sie auch gehabt.
»Wenn der Täter tatsächlich zurückkommt, dann überlasst bitte alles mir. Ihr bleibt im Busch in Sicherheit und mischt euch nicht ein. Wer einmal getötet hat, wir auch vor einem weiteren Mord keine Angst haben.«
Die Sonne war schon lange hinter den waldigen Bergen verschwunden. Die Nacht brach herein und es wurde dunkel. Die Umgebung wurde nur noch durch ein paar Straßenlaternen und einigen Scheinwerfern, die auf die Kirchmauern gerichtet waren, erhellt.
»Wenn sich jemand bei diesem Flutlicht zu einer Straftat verführen lässt, dann ist er schon ziemlich dreist.«
Doch in diesem Moment verblasste das Licht und verschwand unter einer dicken Decke.
»Da geht was vor sich.«, flüsterte der Kommissar. Es geht los. Bleibt so still wie möglich.«, gab er den Mädchen zu verstehen.
Zimmermann wartete noch einen Moment, bis er aufstand und unhörbar mit der Dunkelheit verschwand.
Die beiden Schülerinnen zitterten am ganzen Leib. Irgendwo, nur ein paar Meter von ihnen entfernt, trieb sich ein gefährlicher Mörder herum.
Der einzige Vorteil war, dass dieser nicht wusste, dass man bereits auf ihn gewartet hatte.
Der Kommissar schlich sich, eng an die Kirchwände gedrückt, um das Gebäude herum. In seiner Hand hielt er die entsicherte Dienstwaffe und machte sich bereit, jeden Moment dem Täter in die Augen zu sehen. Er ging um die nächste Ecke. Dort stand eine schwarz gekleidete Person, die auf einer Leiter stand und sich an einem der hohen Fenster zu schaffen machte.
Langsam runter kommen.«, befahl Zimmermann.
»Sie sind festgenommen.
Der Verbrecher erschrak, stolperte über die Sprossen, stolperte und stürzte auf den Rasen. Er wurde vom Kommissar unsanft auf den Bauch gedreht und mit Handschellen gefesselt.
»Feierabend.«

Bei der anschließenden Vernehmung hatte sich herausgestellt, dass der Gefangene im Auftrag eines Antiquitätenhändlers ein paar Gegenstände aus der Kirchen klauen sollte. Sebastian hatte ihn dabei versehentlich gestört. Um das Verbrechen zu vertuschen, musste der Junge sterben.
Als Kommissar Zimmermann noch einmal seinen Bericht überflog, nickte er anerkennend.
»Was für ein Dorf.«, murmelte er.
»Was für ein Zusammenhalt. Herrlich.«

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